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Gedanken zu den November - Pogromen 1938

Erwin A. Schmidl

Anfang November gedenken Menschen in Österreich und Deutschland der Pogrome, bei denen 1938 rund 2.000 Jüdinnen und Juden ermordet und Zehntausende verhaftet wurden. Der Mob zerstörte Tausende Synagogen, Geschäfte und Wohnungen und verwüstete jüdische Friedhöfe. 

Inhalt

Gedanken 

zu den 

NoveMber-

Pogromen 1938

 

Anfang November gedenken 

Menschen in Österreich und Deutschland der Pogrome, bei denen 1938 rund 2.000 Jüdinnen und Juden 

ermordet und Zehntausende 

verhaftet wurden. Der Mob zerstörte Tausende Synagogen, Geschäfte und Wohnungen und verwüstete jüdische Friedhöfe. 

Diese Ereignisse stellten einen Markstein in der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung hin zur physischen Vernichtung dar. Das Zusammenwirken staatlich orchestrierter Gewalt mit antijüdischen Stimmungen unterscheidet das Geschehen vom November 1938 von früheren Ausschreitungen. Es war eine Fortsetzung jener Entrechtung jüdischer Menschen, die im Deutschen Reich 1933 begonnen hatte. Bereits am 7. April 1933 schufen das Berufsbeamtengesetz und das Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft erste Massnahmen des Ausschlusses aus der Gesellschaft. 

Im September 1935 folgten die „Nürnberger Gesetze“: Das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ verbot die Eheschliessung sowie den Geschlechtsverkehr zwischen Juden und Nichtjuden; das „Reichsbürgergesetz“ schuf eine Trennung zwischen vollwertigen „Reichsbürgern“ und lediglich „Staatsangehörigen“ ohne Wahlrecht, die keine öffentlichen Ämter innehaben durften. 1938 verloren jüdische Ärzte und Rechtsanwälte die Zulassung. Die Namensänderungsverordnung vom 17. August 1938 schrieb die zusätzlichen Vornamen Sara oder Israel vor. 

In Österreich gab es zwar – das soll gar nicht beschönigt werden – teils vehementen Antisemitismus; insgesamt aber war die Lage der Juden bis 1938 deutlich besser als im Deutschen Reich. Der Bogen reichte von jüdischen Künstlern und Schriftstellern bis zum „Bund Jüdischer Frontsoldaten“, dem Zehntausende jüdischer Veteranen des Ersten Weltkriegs angehörten, geführt zuerst von Generalmajor Emil Sommer und dann von Hauptmann Sigmund Edlem von Friedmann. 

Mit dem März 1938 wurde all dies anders. Ausschreitungen gegen jüdische und vaterländisch gesinnte Österreicher begannen schon am 11. März, einen Tag vor dem Einmarsch deutscher Truppen. Nach dem „Anschluss“ vom 13. März galten die diskriminierenden deutschen Gesetze auch in Österreich. 

Die Ermordung eines deutschen Diplomaten durch den 17-jährigen Herschel Grynszpan in Paris war Anlass zu den November-Pogromen 1938. Schon 1936 hatte Reichspropagandaminister Joseph Goebbels ein Attentat – jenes des jüdischen Studenten David Frankfurter auf den Leiter der NSDAP in der Schweiz, Wilhelm Gustloff – zum Vorwand für scheinbar „spontane“ Aktionen gegen Juden nehmen wollen. Dies unterblieb aber mit Rücksicht auf die bevorstehenden Olympischen Sommerspiele in Berlin. 

Am 7. November 1938 begannen die Übergriffe gegen Jüdinnen und Juden, Wohnungen, Geschäfte und Synagogen; Angehörige von SA und SS agierten als Provokateure in Zivil. Wie Goebbels nach einer Besprechung mit Adolf Hitler am 9. November notierte: „Die Demonstrationen weiterlaufen lassen. Polizei zurückziehen. Die Juden sollen einmal den Volkszorn zu verspüren bekommen.“ Letzterer war sorgfältig inszeniert, um die Bevölkerung in die Schuld einzubinden. Ein ähnliches Vorgehen praktizierten nationalsozialistische Funktionäre auch später – etwa gegen abgeschossene alliierte Flieger in der Spätphase des Zweiten Weltkrieges, wo SA- und Parteiführer Morde initiierten und als Aktion des „Volkszorns“ erklärten.

Nach den Pogromen mussten Juden – zusätzlich zu den erlittenen Verlusten – 20 Prozent ihres Vermögens an den Staat zahlen, insgesamt eine Milliarde Reichsmark, rund 6 Prozent der gesamten Steuereinnahmen des Reiches. Waffenbesitz, Theater- und Kinobesuche wurden ihnen verboten; im November 1938 folgte die Entlassung jüdischer Schülerinnen und Schüler. Der Plan war, binnen zehn Jahren alle in Deutschland verbliebenen Juden zur Auswanderung zu zwingen, unter Einbehalt des Vermögens. 

Der Kriegsbeginn 1939 stoppte die Auswanderung, aber die Unterdrückung ging weiter. Familien und Einzelpersonen mussten in Sammelunterkünfte übersiedeln, Autos wurden konfisziert, dann Fahrräder. Die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel war untersagt. Mit 1. September 1941 wurde der „Judenstern“ eingeführt. Ebenfalls 1941 begannen die Zwangsverschleppungen in Arbeits- und Vernichtungslager im Osten. Am Ende steht die Zahl von 6 Millionen ermordeten europäischen Jüdinnen und Juden. 

Die Erinnerung an die „Reichspogromnacht“ vom November 1938 sollte – nach 85 Jahren – eigentlich ein historisches Gedenken sein, doch zeigen die Ereignisse nach dem Terrorüberfall vom 7. Oktober 2023, dass das „Nie wieder!“ und „Wehret den Anfängen!“ leider aktueller sind denn je. 

Wir sprechen oft von den Menschenrechten, wie sie am 10. Dezember 1948, also fast genau vor 75 Jahren, von der Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlossen wurden. Diese Erklärung wurde mit 48 Ja-Stimmen ohne Gegenstimmen angenommen – aber acht Staaten, ein Siebentel der damaligen Mitgliedstaaten, enthielten sich der Stimme. Dazu gehörten die Sowjetunion und mehrere kommunistische Staaten, Südafrika im Zeichen der Apartheid und Saudi-Arabien. 

Zum Schluss möchte ich aus der Rede zitieren, die der britisch-indische Schriftsteller Salman Rushdie am 22. Oktober anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels in Frankfurt gehalten hat: 

„Von links wie rechts gerät die Freiheit also unter Druck, von den Jungen wie den Alten. Das hat es so bislang noch nicht gegeben und wird durch neue Kommunikationsformen wie das Internet noch komplizierter. […] Was aber tun wir in Sachen Meinungsfreiheit, wenn sie auf derart vielfältige Weise missbraucht wird? Wir sollten weiterhin […] schlechte Rede mit besserer Rede kontern, falschen Narrativen bessere entgegensetzen, auf Hass mit Liebe antworten und nicht die Hoffnung aufgeben, dass sich die Wahrheit selbst in einer Zeit der Lügen durchsetzen kann.“ 

Hofrat i.R. Univ.-Doz. Dr. Erwin A. Schmidl ist Historiker in Wien. 

Dieser Beitrag ist die stark gekürzte Fassung der Rede, die der Autor am 8. November 2023 anlässlich der Veranstaltung der Stadt Wels in Erinnerung der Novemberpogrome vorgetragen hat. Dies war ein würdiges Gedenken. In seiner folgenden Ansprache ging Bürgermeister Dr. Andreas Rabl besonders auf das Schicksal jener 15 Welser Jüdinnen und Juden ein, welche im Holocaust ermordet wurden. 

 

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Die Gedenkveranstaltung am 8. November 2023 in Wels wurde begleitet vom Bläserensemble der Landesmusikschule Wels unter der Leitung von  Martin Köberl und einer Ehrendelegation des „Bundes der ehemaligen 4er Dragoner“. Es sprachen Univ.-Doz. Dr. Erwin A.

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Schmidl und der Bürgermeister, der sodann zusammen mit

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Vizebürgermeister Gerhard Kroiß einen Kranz beim jüdischen Mahnmal im Pollheimerpark niederlegte

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Dieses 2004 enthüllte Mahnmal – nach einem Entwurf von Stadtbaudirektor Dipl.-Ing. Karl Pany – besteht aus 15 schmalen Säulen, zur Erinnerung an die mindestens 15 im Holocaust ermordeten Welser Juden.

Alle Bilder: Mit freundlicher Genehmigung gewefoto.