Ausgabe

Von der Ukraine nach Paris Olia und Iossip – Eine Lebensliebe Teil I

Günter Krenn

Die treffendste Assoziation zu dieser – ein Leben lang andauernden – Liebesgeschichte sind die Bilder von Marc Chagall, in denen die Baupläne unserer Seelen entschlüsselt erscheinen, gemalt in Farben, die alles über uns wissen. 

Inhalt

Chagall wird 1887 im weissrussischen Witebsk geboren, unser Protagonist am 27. März 1896 in Charkiw, der zweitgrössten Stadt der heutigen Ukraine. Er ist aschkenasischer Jude, heisst Sergej Iossip Ginsburg, hat vier Brüder und eine Schwester und sein Leben wird eine beinahe unendliche Odyssee werden, die fast 3.000 Kilometer weit entfernt in Westeuropa endet. 

 

Mit fünf Jahren lebt Iossip in Mariupol am Asowschen Meer. Nachdem sein Vater Hèrich im Jahre 1904 den zaristischen Einberufungsbefehl in den Japanisch-Russischen Krieg verweigert hat, flieht die Familie von dort nach Weissrussland und kehrt nach der russischen Niederlage im darauffolgenden Jahr wieder in die Ukraine zurück. Es gibt auch andere als nur kriegsbedingte Motive für die verbliebenen Ginsburgs, über eine Ausreise aus der Ukraine nachzudenken: Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung führen zu Auswanderungswellen Richtung Mittel- und Westeuropa. Iossip plant seine Zukunft dennoch in seinem Geburtsland, und er hat dafür sehr konkrete Pläne. 

 

Während sich die Zerrissenheit der seit Jahrhunderten unter diversen Imperien aufgeteilten Ukraine in der immer wieder gewaltvollen Suche nach einer eigenen Identität manifestiert, hat der junge Ginsburg seine eigentliche Heimat anderswo definiert. Das Wort „Kunst“, so betont er, hätte er zeitlebens stets in Grossbuchstaben geschrieben. Mit neunzehn Jahren ist der begabte Pianist Absolvent eines Konservatoriums und hat es bei Musikwettbewerben bereits zu Auszeichnungen gebracht. 1916 wohnt Iossip in Jeka-
terinoslaw, dem späteren Dnipropetrowsk und heutigen Dnipro. Sein Ziel ist, dass sich sein Konterfei bald in einem Schild an der Haustür widerspiegelt, auf dem der Titel eines Konservatoriums-Professors zu lesen ist. 

 

Es sollte anders kommen. Seit 1914 tobt der Erste Weltkrieg, ein Teil der Ukraine steht unter der Verwaltung der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, der andere gehört zum Russischen Reich. Ukrainer kämpfen in manchen Schlachten gegen ihre eigenen Landsleute, sogenannte „Kleinrussen“ auf zaristischer Seite gegen die „Ukrainische Legion“ in der k. und k.-Armee.

 

Iossip entgeht einem Einberufungsbefehl von Seiten Russlands und lässt sich 1917 in Feodossija nieder, einer Hafenstadt auf der Krim, wohnt dort bei der Familie Besman, um den acht Töchtern und Söhnen Musikunterricht zu geben. In eine davon verliebt er sich: Olia, der Name ist ein Diminutiv von Olga, eigentlich heisst die junge Dame Brucha Goda Besman. Geboren am 15. Januar 1894 in Feodossija, ist sie zwei Jahre älter als er und verfügt über einen ausdrucksstarken Mezzosopran. Iossip begleitet sie am Klavier und sie ihn bald durchs Leben. Er ist geprägt von Sentimentalität und Melancholie, sie gesegnet mit Humor und Selbst­ironie. Das scheint eine gute Mischung zu ergeben, denn die Beziehung hält ein Leben lang. 

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 Olia und Iossip Ginsburg. Quelle: https://gonzomusic.fr/lili-lulu-ginsburg.html

Auf frühen Fotografien posieren sie nebeneinander im Atelier. Das ordentlich gescheitelte, volle, dunkle Haar Iossips wellt sich mit elegantem Schwung, sein freundliches Wesen findet seine Entsprechung in einem sanft gerundeten Gesicht, aus dem zwei Augen erst durch einen Kneifer, später durch eine Brille mit fast eulenartiger Dignität auf die Welt blicken. Olia steht auf dem Foto hinter ihm, wie sie das ihr Leben lang tun wird. In ihrem hübschen Gesicht beeindrucken zwei wache Augen, die noch ohne jeden Sehbehelf Lebenssituationen meist schneller erkennen als ihr Mann es in der Lage ist. Später wird Iossip dies die glücklichste Zeit in seinem Leben nennen: 21 Jahre alt, verliebt, sein finanzielles Auskommen durch Studenten gesichert, endlich in einer freundlichen Stadt angekommen und in der Lage, sich zwei Leidenschaften hinzugeben: Olia und der Musik. Auch den Namen seiner Frau schreibt er zeitlebens in Grossbuchstaben. 

 

Die Russische Revolution, die 1917 ausbricht, passt gar nicht in das Zukunftsbild des jungen Liebespaares. Die sozialpolitischen Ziele der Revolutionäre in dem von zaristischem Absolutismus unterdrückten Land sind ihnen vermutlich nicht egal, sie erleben jedoch in erster Linie die Gewalt und Brutalität bei deren Umsetzung – und das auf beiden Seiten. Olia wird als Krankenschwester in ein Armeespital nach St. Petersburg beordert, wo sie für Iossip eine Stelle als Sekretär im Krankenhaus findet. Er besteigt darauf in Feodossija mit einem grossen Laib Brot als Proviant einen Zug, obwohl er weiss, dass sowohl Menschewiken als auch Bolschewiken Züge immer wieder anhalten und alle exekutieren, die eine Uniform anhaben, darunter auch Studenten. Dieser Umstand bringt Iossip in Lebensgefahr, denn ihn kleidet die für Musikstudenten übliche schwarze Uniform mit Goldknöpfen. Dass er sich bei einem solchen militärischen Überfall vor den marodierenden Soldaten einmal unter dem ausladenden Rock einer Bäuerin versteckt hat, stammt in diesem Falle nicht von Günter Grass aus dessen Blechtrommel, sondern von Iossip Ginsburg. 

 

Iossip trifft wohlbehalten in St. Petersburg ein und heiratet Olia dort am 18. Juni 1918. Im selben Jahr wird die Zarenfamilie, Symbol der alten Ordnung, ermordet. Der Entschluss der Ginsburgs, der Ukraine den Rücken zu kehren, steht zu jener Zeit bereits fest, denn Iossip möchte, ganz im Sinne der Familientradition, der Einberufung in die Armee, egal, für welche Seite, entgehen. Die Machtkämpfe und das anarchische Durcheinander nach der Ermordung des Zaren nützen die Ukrainer zur Ausrufung der Ukrainischen Volksrepublik und erklären 1918 ihre Unabhängigkeit von Russland. Die Bolschewiken versuchen das Land zurückzuerobern, auf Bitten der Ukraine unterstützen deutsche und österreichisch-ungarische Truppen den neuen Staat. Die Hoffnung der Ukrainer, ihre Unabhängigkeit durch den Friedensvertrag von Brest-Litowsk zu gewährleisten, zerschlagen sich bald. Nach der Niederlage der Mittelmächte im Oktober 1918 stellen sowohl Polen als auch die neu gegründete Sowjetunion Ansprüche auf die Ukraine und teilen das Land 1920 unter sich auf. Bis 1991 lebt nur im Namen Ukrainische Sowjetrepublik die Idee eines unabhängigen Staates weiter, in diesem Jahr erlangt die Ukraine nach der Auflösung der Sowjetunion ihre Souveränität zurück, doch, wie die Geschichte gezeigt hat, auch dieses Mal noch nicht für immer.

 

Im Jahr 1919 landen Olia und Iossip auf ihrer Flucht im georgischen Batumi, wo sie fast ein Jahr verbringen; ein Schiff, das Soldaten in den Kaukasus bringt, hat sie dorthin mitgenommen. Als Iossip feststellt, dass auch hier Männer für die Weisse Garde rekrutiert werden, geht die Reise weiter in Richtung Westen; wieder per Schiff, diesmal über das Schwarze Meer entlang der türkischen Küste. Eine gefährliche Route, denn Piraten kapern dort regelmässig Schiffe. Die Ginsburgs kommen unversehrt davon, aber Olias 15-jähriger Bruder Michail, der ihnen nachreist, fällt den Freibeutern in die Hände. Er bleibt ungeschoren, sieht man davon ab, dass die Seeräuber ihn nackt in einem Fass im Meer treiben lassen. 

 

Die nächste Station ist Istanbul, das zu jener Zeit noch Konstantinopel heisst, auch dieser Aufenthalt dauert ein Jahr. Die Ginsburgs geben sich mit gefälschten Papieren als Türken aus und Iossip finanziert ihren Unterhalt als Pianist in Kaschemmen für Seeleute und anderes gewöhnliches Publikum. Wie viele andere Ukrainer warten Olia und Iossip im Exil vergeblich auf die verbriefte Unabhängigkeit der Ukraine. Als sich das kommunistische Regime festigt, machen sie sich auf die Weiterreise über das Mittelmeer und landen schliesslich im französischen Marseille.  

 

Viele Ukrainer wählen, dort angekommen, die Côte d’Azur als Exilort – nicht des noblen Ambientes wegen, von dem zu jener Zeit noch keine Rede sein kann, sondern, weil sie das mediterrane Klima an jenes auf der Krim erinnert. Die Ginsburgs aber reisen weiter nach Paris, wo Olias Bruder mittlerweile für das Bankhaus Louis Dreyfus arbeitet. Hier findet ihre Odyssee 1921 ihr Ende, obwohl ihr ursprünglicher Plan gelautet hatte, in der französischen Hauptstadt auf ein Visum für die U.S.A. zu warten. Doch die Stadt an der Seine fasziniert Iossip von Beginn an, er kennt sie bislang nur aus Romanen und von den Leinwänden zahlreicher Gemälde. 

Fortsetzung dieses Beitrags, Olia und Iossip, Teil II, in der 

kommenden Ausgabe, DAVID, 140, Pessach  5784/April 2024.