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Eine starke Frau aus Prag Gerty Therese Cori

Michael Bittner

Verwandte, die man nie kennengelernt hat, hinterlassen irgendwie ein ungutes Gefühl. Man hätte sie vielleicht schätzen gelernt, hätte sich mit ihnen austauschen können, aber der Tod, der Atlantik und die eigene Biografie haben es nicht zugelassen. 

Inhalt

Unter den vielen Tanten meiner Kindheit die weitaus interessanteste war Gerty Cori, geborene Radnitz aus Prag, die Gattin meines Grossonkels Carl Ferdinand Cori. Durch die Erzählungen meines Grossvaters, der auf seine berühmten Familienmitglieder mächtig stolz war, wusste ich von der Karriere der beiden, von den Wohnorten, vom frühen Tod von Gerty, es gab Briefe, wenige, heute verschollene Fotos, doch blieben die beiden für mich mysteriöse Gestalten. Gerty war mir irgendwie unheimlich, sie sah wie meine Grossmutter aus, mit der sie aber gar nicht verwandt war (das Prager Gesicht?).

 

Gerty Cori wurde 1896 in Prag in eine intellektuelle Familie geboren, wurde umfassend gebildet und dann eine der wenigen Studentinnen an der Deutschen Universität Prag, wo sie ihren zukünftigen Ehemann kennenlernte. 1920, nach Kriegsende, wurde geheiratet, zu diesem Zweck konvertierte sie zum Katholizismus – dennoch gilt sie bis heute als „jüdische“ Wissenschaftlerin. 

 

1922 übersiedelte das Paar in die U.S.A.; die Karrierechancen waren in Prag und Wien damals sehr beschränkt. Die patriarchale Gesellschaft des 20. Jahrhunderts beeinflusste ihre Karriere – Gerty und Carl arbeiteten stets als Team zusammen (siehe Abbildung 3), was damals unüblich war, teilten sich auch den wissenschaftlichen Erfolg (Aufsätze wurden unter dem Namen jenes Partners veröffentlicht, der mehr dazu beigetragen hatte), doch bis kurz vor dem Nobelpreis blieb Gerty das „Anhängsel“ ihres Mannes, der als Professor an verschiedenen Universitäten forschte, an denen seine Gattin hingegen als Assistentin angestellt war. Carl weigerte sich jedoch, eine Stelle anzunehmen, wo er Gerty nicht hätte mit beschäftigen können.1 Erst 1946 erhielt sie selbst eine Professorenstelle an der Universität von St. Louis.2 

 

Diese Universität bot dem Forscherpaar die Möglichkeiten für ihre gemeinsamen Entdeckungen: den Cori-Zyklus – einen Stoffwechselkreislauf, bei dem nichtoxidierte Milchsäure aus dem Muskel ins Blut diffundiert, zur Leber transportiert und dort in Glykogen umgewandelt wird, und das Cori-Ester (Glucose 1-phosphat), somit das Verständnis des Zuckerstoffwechsels (siehe Abbildung 2). Carl betonte in seiner Nobelpreis-Rede, dass sie alles gemeinsam erreicht hätten und einzeln niemals zu solchen Ergebnissen gekommen wären.3 Die fantasievolle, sprunghafte, super-intelligente Gerty ermöglichte es dem ruhigen, perfektionistischen, beharrlich forschenden Carl, zu besonderen Ergebnissen zu kommen – et vice versa.

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Eines meiner Lieblingsfotos von Gerty, in einer Forschungspause. https://www.mdpi.com2673-93213327 abgerufen 27.09.2023.

Der Nobelpreis für Biochemie 1947 war die Krönung ihres Lebenswerks. Gerty war die erste Amerikanerin, und erst die dritte Frau, welche überhaupt einen Nobelpreis verliehen bekam. Und gleich darauf der Tiefschlag – die Diagnose einer seltenen Knochenmarkserkrankung, das Todesurteil. Dennoch forschte sie bis zu ihrem Tod mit nur einundsechzig Jahren unermüdlich weiter, wie übrigens auch Carl, der sie um 26 Jahre überlebte.4 

 

Was blieb von Gerty und Carl? Vor allem ihr gemeinsamer Sohn, C. Thomas Cori, der heute noch in St. Louis, Missouri lebt, mittlerweile 87 Jahre alt.5 Dann der wissenschaftliche Ruhm – die Washington University School of Medicine in St. Louis führt ihre führende Stellung in der amerikanischen medizinischen Forschung auf die beiden zurück, heute sind es 2.100 Ärzte, die in dieser Institution und den daran angeschlossenen Spitälern arbeiten. Hier gibt es auch einen Erinnerungsraum, seit Thomas 2016 dieser Institution die Nobelpreis-Medaillen zum Geschenk gemacht hatte.6 Ihr ehemaliges Wohnhaus in 1080 North Berry Road in Glendale, Missouri wurde ins National Register of Historic Places aufgenommen.7 

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Der Cori-Zyklus in künstlerischer Darstellung. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Cori_cycle.PNG by Krepideia. Abgerufen 27.09.2023.

Klarerweise gibt es auch einen Cori-Mondkrater und einen ebensolchen auf dem Mars,8 meist aber kommt Gerty Cori heute als Vorzeigefrau in feministischen Pamphleten vor, da sie in einer von Männern dominierten Welt reüssieren konnte. Das ist schade, denn die pseudopolitische Vereinnahmung lässt ihre Persönlichkeit in den Hintergrund treten, die es wert wäre, entdecket zu werden. Leider wurden ihre Gedanken bisher nur bruchstückhaft publiziert. Vielleicht gibt es einmal mehr von ihr zu lesen, ich hoffe, dass sich ihre Enkel darum kümmern werden. Eine Kostprobe: 

„Ich glaube, dass die Wunder des menschlichen Geistes in Kunst und Wissenschaft zum Ausdruck kommen, und ich sehe zwischen beiden keinen Konflikt. Die Versenkung in die grossen menschlichen Leistungen aller Epochen hilft mir in Zeiten der Verzweiflung und des Zweifels. … Ehrlichkeit, vor allem intellektuelle Integrität, Mut und Freundlichkeit sind noch immer die Tugenden, die ich bewundere; mit zunehmendem Alter hat sich allerdings die Gewichtung ein bisschen verlagert – Freundlichkeit scheint mir heute wichtiger als in meiner Jugend. Die Liebe zu meiner Arbeit und die Hingabe an sie sind für mich die Grundlage des Glücks.“9

 

 

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Eines der vielen gestellten Laborfotos. https://en.wikipedia.org/wiki/Gerty_Cori#/media/File:Gerty_Theresa_Radnitz_Cori_(1896-1957)_and_Carl_Ferdinand_Cori_-_restoration1.jpg abgerufen 27.09.2023.

 

Anmerkungen

1 Ilse Korotin (Hg.), BiografieA. Lexikon österreichischer Frauen Band 1 A-H Böhlau Verlag Wien – Köln – Weimar 2016 S. 521 f.

2 https://cfmedicine.nlm.nih.gov/physicians/biography_69.html abgerufen 21.09.2023.

3 https://medicine.wustl.edu/news/cori-nobel-prize-medals-donated-to-washington-university/#:~:text=The%20Nobel%20Prize%20in%20Medicine,by%20their%20son%2C%20Thomas%20Cori. Abgerufen 21.09.2023.

4 Ilse Korotin (Hg.), BiografieA. Lexikon österreichischer Frauen Band 1 A-H Böhlau Verlag Wien – Köln – Weimar 2016 S. 521 f.  https://www.nytimes.com/1984/10/21/obituaries/dr-carl-f-cori-who-won-nobel-with-his-wife-in-47-dies-at-87.html abgerufen 21.09.2014.

5 https://academyofsciencestl.org/academy-fellows/c-thomas-cori-ph-d/  abgerufen 21.09.2023.

6 https://medicine.wustl.edu/news/cori-nobel-prize-medals-donated-to-washington-university/#:~:text=The%20Nobel%20Prize%20in%20Medicine,by%20their%20son%2C%20Thomas%20Cori. Abgerufen 21.09.2023.

7 https://mostateparks.com/sites/mostateparks/files/Cori%20House.pdf abgerufen 21.09.2023.

8 https://de.wikipedia.org/wiki/Gerty_Cori abgerufen 22.09.2023.

9 Der jüdische Kalender 5773, hrsg. Henryk M. Broder und Hilde Recher, Ölbaum-Verlag Augsburg 2012, zum 26. Oktober, leider ohne Quellenangabe.