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Gekommen, um zu bleiben Der Wiener Architekt Leopold Krakauer in Palästina

Werner Winterstein

Die Entwicklung einer eigenständigen Baukultur in Palästina ist mit dem Namen des Wiener Architekten und Künstlers Leopold Krakauer untrennbar verbunden.

Inhalt

Leopold Krakauer wurde 1890 in eine assimilierte jüdische Familie geboren und wuchs daher in einem Konfliktfeld zwischen Bemühung um Integration und gleichzeitig herrschender Stigmatisierung durch den ständig wachsenden Antisemitismus auf, sodass er sich in Wien nie „zu Hause“ fühlte. Dennoch blieb er dieser Stadt so verbunden, dass er nach seiner spontanen Übersiedlung 1924 nach Palästina seinen unverkennbar Wienerischen Wortschatz ebenso wie den täglichen, unvermeidlichen Kaffeehausbesuch beibehielt. Er kehrte jedoch nie mehr wieder nach Wien zurück, nicht einmal mehr auf Besuch.

 

Nach seiner Matura 1907 an der k. k. Staatsrealschule inskribierte er an der Hochbauschule der Technischen Hochschule Wien und schloss das Studium dort 1912 ab. Zusätzlich besuchte er 1909 die Spezialschule für Architektur an der Akademie der Bildenden Künste bei Prof. Friedrich Ohmann, dem Architekten des Dianabades, des Palmenhauses im Wiener Burggarten, der Wienflussverbauung im Bereich Stadtpark und anderem, der sein späteres Schaffen massgeblich beeinflusste. 

 

Ohmanns Schwiegersohn Prof. Hans Pfann war später Vorstand des Instituts für Kunsthandwerk und Innenraumgestaltung an der Technischen Hochschule Wien, und als solcher um 1958 dort nicht nur mein Lehrer, sondern auch mein Vorgesetzter, da ich als Werkstudent drei Jahre als „wissenschaftliche Hilfskraft“ an seinem Institut beschäftigt war. Dort brachte er mich auch mit dem Werk von Leopold Krakauer zusammen, der vor kurzem erst verstorben war (1954). Ich erinnere mich noch gut an die Dias von Plänen, Bauten und Kohlezeichnungen Krakauers, die ich über den Projektor den Studenten näher zu bringen hatte.

Die Studienzeit Krakauers war geprägt vom Aufbruch zur Moderne in Wien. Ganz kurz zusammengefasst, forderten deren Protagonisten, wie die Architekten Otto Wagner, Adolf Loos und auch Friedrich Ohmann die Übereinstimmung von Zweck und Funktion, auch im Hinblick auf Material, Konstruktion und Formgebung, ob Gebäude oder Gebrauchsgegenstände, Stichwort: Wiener Werkstätten. Wenn Wagner postulierte: „artis sola domina necessitas!“ (zu Deutsch: „Die einzige Herrin der Kunst ist die Notwendigkeit!“), war Loos noch radikaler, indem er „Schönheit“ nur in Bezug auf Zweckmässigkeit des Werkes gelten liess. Dieser forderte auch, dass nicht nur die Architekten, sondern auch die Auftraggeber und Nutzer sich diese neue Sichtweise anzueignen hätten.

 

Die Emigration

1924, nach einem gewonnenen Architekturwettbewerb also in Palästina angekommen, wurde Krakauer klar, dass er die bisher erlangten Kenntnisse und Fertigkeiten, die ihm in seiner Heimat durch seine Ausbildung und Praxis, „aus dem Vollen schöpfend“, zugänglich gewesen waren,  diesem neuen Land, das gerade am Weg zu einem eigenen Staat war, aber über keinerlei eigenständige Baukultur verfügte, anzubieten gefordert war.1 Und er war in dieser Bewegung in allerbester Gesellschaft von Kollegen aus aller Herren Länder, insbesondere aus Deutschland – Bauhaus (Weltkulturerbe „White City“ Tel Aviv).

 

Getreu seiner Ausbildung in Wien bildeten die vorbeschriebenen Postulate das Grundgerüst seiner planerischen Tätigkeit auch in seiner neuen Umgebung. Doch sein individueller Beitrag, der seine Spuren unverwechselbar gemacht hat, lag in der Methode, sich mit den örtlichen Gegebenheiten und Anforderungen im Vorfeld intensiv auseinander zu setzen. 

Dazu erforschte er das Land in topografischer, klimatischer und auch bauhistorischer Hinsicht, und setzte sich auch mit den örtlichen Bauformen auseinander, jedoch nicht, um sie nachzubilden. 

Jede Architektur benötigt einen Ort

Krakauer identifizierte und lokalisierte beispielsweise die klimatischen Zonen seiner neuen Heimat als kontinentale, mediterrane, subtropische, tropische und Wüstenzonen; auch die Hauptwindrichtungen wurden für die Lage, Orientierung und Morphologie späterer Bauvorhaben untersucht. Die aus Europa mitgebrachten Grundsätze der „Moderne“ unterzog er also einer Transformation, ohne Inhalts- und  Substanzverlust. Auch stand für ihn fest, dass die Szenerie, der „locus“ (lat.: „Ort“) eine entscheidende Rolle im Entwurfsverfahren spielt. Um dies nicht nur zu erforschen, sondern auch bildlich festzuhalten, kam ihm seine grosse zeichnerische Begabung zugute. Schon seine ersten expressionistischen Wiener Arbeiten, wie Kohlezeichnungen von Natur und landschaftlichen Motiven, zeigten den Einfluss von Oskar Kokoschka und Vincent van Gogh. Auch nach seiner Einwanderung in Palästina blieb er dieser Technik treu. Sein Werk war danach in zahllosen Ausstellungen zu sehen, sein künstlerischer Nachlass befindet sich in den bedeutendsten Museen. Das Erfassen der Besonderheiten einer Örtlichkeit und das Einfügen von Architektur in diese wandelbare, räumliche Kulisse waren damit bestimmende Merkmale seines Schaffens.

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Entwurfsskizze, um 1930. Quelle: Jüdisches Museum Wien Inv.Nr. 26.468.

Architektur entsteht aus der Form

Die Umsetzung der von ihm mitgebrachten Formensprache, des Grundsatzes der Symbiose von Gestalt und Zweck, wie es die Wiener Schule ausdrückte, die programmatischen  Anforderungen also, ergänzte er mit der Berücksichtigung spezifisch örtlicher Gegebenheiten, die es für ihn ebenso zu beachten galt. So verfolgte er beispielsweise für die Stellung von Gebäuden, insbesondere für Siedlungsbauten wie kibbuzim oder moschawim jene Ausrichtung, die eine optimale Querdurchlüftung auf Grund der vorherrschenden Windrichtung ermöglichte. Gleichzeitig mit gestalterischen Überlegungen behielt er die besonderen örtlichen klimatischen Anforderungen, wie Belichtung, Beschattung und bewegte Luft im Auge.

 

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 Berge von Jerusalem, 1953. Quelle: tiroche.co.il-leopold krakauer-LOT 18.

 

Der obere Abschluss – das Dach

Dessen Figuration ist zwar grundsätzlich ein die Gebäudeform stark beeinflussendes Element. Doch für Krakauer waren auch die besonderen Erfordernisse der jeweiligen Klimazonen, insbesondere im Hinblick auf Schutz vor Niederschlägen und Sonneneinstrahlungen, mit entscheidend: Nach dem der „Moderne“ zugrunde liegenden Prinzip „form follows function“ (zu Deutsch: „Form folgt der Funktion“) stellten sich zur Auswahl: entweder Flachdächer (zusätzlich Nutzung möglich, für Zonen mit starkem Niederschlag jedoch nicht geeignet), oder geneigte Dächer (zusätzlich raumbildend, eventuell Vorsprünge Schatten bildend, jedoch grössere, der Sonnenbestrahlung ausgesetzte Fläche). Meist war das Dach nicht nur Witterungsschutz, sondern auch eine zusätzliche Licht- und Lüftungsquelle. Die Entscheidung war natürlich auch eine gestalterische Frage.

 

Die raumbildende Hülle – die Wand

Hier kam die zeitgemässe Bauweise mit Stahlbeton, Betonsteinen, seltener Ziegeln, und anderen industriell gefertigten Baumaterialien zur Anwendung, die zwar grössere Öffnungen und Spannweiten zulässt, aber für die Beschattung zusätzliche Massnahmen erfordert. Um eben diese zu erfüllen, transformierte Krakauer die Fensterlösung der arabischen Bauweise. Diese sah in ihren starken Aussenmauern, die meist aus mehreren Steinschichten samt Mittelschichten aus Lehm bestanden, konstruktionsbedingt kleine Öffnungen vor, in welchen die Fenster nach innen in den Schatten rückten, wodurch ein „chimneylike ventilation effect“ (Wortlaut Krakauer, zu Deutsch: „kaminartiger Lüftungseffekt“) erzeugt wurde. 

 

Diese bewährte Konfiguration entwickelte er zu einem einzigartigen Element, dem Krakauerfenster, das diesem klimatischen Erfordernis entsprach. Die ortsüblich starken Aussenmauern wurden nämlich durch die Nutzung moderner Baustoffe schlanker; um die erforderliche Fensternischentiefe aber weiter zu sichern, entwickelte Krakauer den auskragenden Fensterkasten, der zu einem prägenden Stilelement wurde (siehe Fotos zum Kibbuz Degania). Diese inzwischen legendäre Fensterkonstruktion setzte er vorwiegend bei Siedlungsprojekten wie dem Kibbuz Beit Alfa ein. Aber auch bei städtischen Bauwerken kam „sein“ Fenster hin und wieder zur Ausführung, wie für das Hotel Teltsch House in Haifa.

 

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Kibbuz Degania Alef, Speisesaal. Durchgehender Krakauerfensterkasten. Foto: Archivfoto, Kibbuz Degania Archiv.

 

Architektur als Komposition

Darunter versteht man das Zusammenspiel von Proportion, Konstruktion, Material und Farbgebung. Hinzu kommt auch noch die Massstäblichkeit im Hinblick auf die Nutzung: modulare Massverhältnisse, die beispielsweise einst aus  der Giebelecke des Dorischen Tempels oder dem Japanischen Schatzhaus abgeleitet, oder von Vitruv über Leonardo da Vinci bis hin zu Le Corbusiers Modulor, ebenso wie der Goldenen Schnitt, das Pythagoräische Dreieck und anderes mehr, entwickelt wurden. 

Es ging in der „Moderne“ um die Beziehung der Teile unter- und zueinander, und sie forderte von den Architekten eine diesbezügliche Hinwendung. So auch von Leopold Krakauer, dessen Entwürfe und Ausführungen eindrucksvoll zeigen, wie er mit der „Moderne“, den Erkenntnissen seiner Analysen der arabischen Bauweise, die ein Gemenge kubischer Baukörper auszeichnet, und der Umsetzung seiner Forschungen betreffend die örtlichen klimatischen und topografischen Besonderheiten eine gestalterische Komposition formte.

 

Abbildungsnachweis

Ich danke Frau Kollegin Mag. Arch. Christa Illera für die Überlassung einer zeichnerischen Darstellung, sowie dem ­Jüdischen Museum Wien für die Genehmigung zur Veröffentlichung von Planzeichnungen.

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Kibbuz Degania Alef, Speisesaal, Innenansicht: Krakauerfenster innen, Licht und Luft auch über Dach. Quelle: wikiwand.com/he/krakauer

Anmerkung

1 Siehe dazu Werner Winterstein: Von der Düne zur Stadt. Der Rothschild Boulevard. In: DAVID, Nr. 134, Rosch Haschana 5783/ September 2022, S. 60-63, hier: S. 62.

 

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Konstruktion und Funkionsweise des Krakauerfensters

 

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Krakauerhaus, Kibbuz Beijt Alfa, 1935. In der Bildmitte Leopold Krakauer. Quelle: Wikiwand.com/he/media 7554.

 

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Hotel Teltsch House, Haifa. Kasten gerundet, ohne Insektenschutz. Foto: issuu.com/ariel-university/V11/218.

 

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 Hotel Teltsch House, Haifa, 1940. Quelle: Jüdisches Museum Wien, Inv.Nr. 27.443.

 

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Projekt Haus Kleeberg, Jerusalem. Quelle: Jüdisches Museum Wien, Inv.Nr. 27.442.